Das Stubenmädchen – Auflösen eines Traumas

Charles Chaplin

Da steht sie. Direkt neben dem Kamin in der Stube eines großen Gutshofes. Sie hat strikte Anweisungen dort zu stehen und nicht aufzufallen , um bei Bedarf sofort bereit zu sein, den Herrschaften zu dienen. In ihr steigen Ängste auf, dass es ihr schwindelig werden könnte. Ganz unauffällig bemüht sie sich, ihr Gewicht abwechselnd von dem einen Bein auf das andere zu verlagern. Sie steht dort jetzt seit einer Stunde und sie hat Schweizausbrüche und eine unglaubliche Angst, dieser stehenden Haltung, die anmutig, fromm und sich dennoch dekorativ in den Raum fügen soll, nicht gerecht werden zu können. Ihre Eltern haben soviel Erwartungen an sie. Sie haben es ihr mehr als einmal eingeschärft, jeglichen Anweisungen der Herrschaften unverzüglich und ohne Widerstand demütig zu folgen. Sei fromm und gottesfürchtig waren ihre Worte. Jegliche falsche Bewegung könne eine Entlassung zur Folge haben, was sie denn für ihr Leben brandmarken und bereuen würde. Jegliches Fehlverhalten müsse also um jeden Preis verhindert werden, dass wurde ihr tief eingeimpft. Intensive Versagensängste überkommen sie in dem Moment und es wird ihr tatsächlich schwindelig.

Umso überraschter ist sie als vor ihr eine Person auftaucht. Sie hat etwas Unreales an sich und stellt sich als eine Frau vor, die aus der Zukunft kommt. Sie sieht so ganz anders aus als die Frauen, die sie bisher kennt. Sie sagt Worte wie: „Erschrick dich nicht. Ich bin dein späteres Ich, etliche Leben weiter. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Deine Probleme sind auch meine Probleme. Doch nun habe ich die Möglichkeit, dich zu besuchen, um mich und dich aus dieser Situation zu befreien. Es kann dir nichts passieren.“ Im nächsten Moment schiebt ihr genau diese Frau einen Stuhl hin und bittet sie, dort Platz zu nehmen. Was für eine Erleichterung. Es gelingt ihr für einen Augenblick, jegliche Ängste zu vergessen. Und dann ist da noch diese Wärme, dieses unbekannte Gefühl, geliebt zu werden und bedeutend zu sein. Noch nie hat sie sich geborgen gefühlt. Langsam beginnt die Starrheit aus ihrem Körper zu weichen. Tränen fließen über ihr Gesicht, die Anspannung verlässt ihren Körper. Was da auch gerade immer mit ihr passiert ist, da gibt es tatsächlich eine Frau, die genau wusste wie es ihr geht, die ihre Verzweiflung bemerkt hat. Die Dinge um sie herum scheinen sich jetzt verändert zu haben. Niemand stört sich daran, dass sie jetzt auf diesem Stuhl sitzt. Die erwachsene Frau, erklärt ihr nicht, dass sich ihr Bewusstsein verändert hat und sie sich daher in einer veränderten Realität wieder findet. Sie ist ja auch noch so jung, vielleicht 14 oder 15 Jahre alt, hat keine Schulbildung und könnte mit diesen Erklärungen gar nichts anfangen.

Nun wird die Tür aufgerissen. Eine fröhliche Schar Kinder betritt die Wohnstube. Sie hat jedoch eher Angst vor ihnen. Da ist einerseits dieses eine kleine Mädchen, das sie immer etwas verstohlen und aufmuntert anlächelt, mit der unausgesprochenen Aufforderung zurück zu lächeln. Andererseits ist da aber auch die ältere Schwester, die ihr mit Freude in die Seite kneift, wohlwissend, dass sie sich nicht wehren wird, da sie sich niemals trauen wird, sich gegen die Kinder der Herrschaft zu wehren. Also erträgt sie die Schmerzen, sie hält sie aus. Dann betritt der Gutsbesitzer den Raum. Sie erschaudert innerlich. Er würdigt sie keines Blickes. Nachts kommt er in ihre Kammer. Er redet auch dann nicht mit ihr. Sie unterdrückt jeglichen Gedanken daran. Statt dessen steigt die Schamröte in ihr auf. Übelkeit überkommt sie. Sie darf sich nichts anmerken lassen und muss Haltung bewahren. Die Küchenmagd sprach davon, dass das Stubenmädchen vor ihr, das Haus verlassen musste, da sie in anderen Umständen war. Ihr wurde klar, dass es mit diesen nächtlichen Besuchen zu tun hatte. Aus diesen Andeutungen wurde sie nicht ganz schlau, dennoch erfüllte sie der Gedanke mit Entsetzen, das Haus verlassen zu müssen. Sie würde alles dafür tun, bleiben zu dürfen.

Tief in diesen schmerzhaften Emotionen versunken, erscheint erneut diese so ganz anders gekleidete und etwas unwirklich wirkende Frau. Aus ihrem Mund hört sie die Worte: „Mein geliebtes altes Ich. Auch diese entsetzlichen Emotionen des Ertragen und Aushalten müssen dürfen jetzt gehen. Deine Gefühle des Ausgeliefertseins verlassen deinen Körper. Du bist in Sicherheit. Jetzt darf dich niemand mehr verletzen. Du musst deine Emotionen nicht mehr länger unterdrücken, damit die Herrschaft sich nicht an deinem Verhalten stößt.“ Wie alte Schalen fällt da etwas von ihr ab. Sie beginnt zu spüren, dass es sie als Mensch gibt. Sie ist genauso wertvoll ist wie alle anderen Menschen in diesem Raum. Da ist wieder dieses Gefühl der Wärme und Geborgenheit in ihr. Sie weint aus tiefsten Herzen, da es ihr bewusst wird, wie qualvoll ihr junges Leben in dieser Anstellung bisher verlaufen ist. Nur wenige lichte Momente, wenn sie mit dem übrigen Gesinde speisen und an den wenigen freien Tagen Zeit mit ihnen verbringen darf.

Mit der Frau aus der Zukunft an ihrer Seite signalisiert sie jetzt der sich nähernden älteren Tochter des Hauses, dass sie nicht gewillt ist, sich kneifen zu lassen und schiebt sie von sich weg. Diese ist völlig verblüfft, will sich gerade lauthals über das Stubenmädchen beschweren, das jedoch in diesem Augenblick die Schürze ablegt, sich die Haube vom Kopf nimmt und selbstbewusst verkündet, dass es jetzt endlich Zeit wäre zu gehen. Mit zitternden Knien verlässt sie die Stube, geht zur Ausgangstür, während fortwährend weitere belastende Emotionen wie dunkle Schatten von ihr abfallen. Gleichzeitig richtet sie sich langsam auf. Sie öffnet die Eingangstür, verlässt das Haus und schließt die Tür hinter sich . Draußen atmet sie in tiefen Zügen die frische Luft in sich auf. Das Gefühl der Freiheit verbreitet sich unaufhaltsam in ihrem Körper. Die Frau aus der Zukunft sieht ihr hinterher, wohlwissend, dass sie jetzt mit ihrem neuen Bewusstsein auch in dieser Zeit bestehen wird und ein Leben in Freiheit führen kann. Die Frau der Zukunft lächelt in sich hinein und beobachtet zufrieden wie sich dunkle Nebelschwaden aus ihrem Herzen verflüchtigen und dass an deren Platz sich nährende und liebende Wärme ausbreitet.